Betreff
Bericht zum Ausbau der frühen Beratung in der Psychologischen Beratungsstelle
Vorlage
WP 09-14 SV 51/263
Aktenzeichen
III/51-To
Art
Mitteilungsvorlage

Beschlussvorschlag:

Der Jugendhilfeausschuss nimmt den Bericht zum Ausbau der frühen Beratung in der Psychologischen Beratungsstelle zur Kenntnis.

 


Erläuterungen und Begründungen:

 

Die Psychologische Beratungsstelle der Stadt Hilden unterstützt seit jeher Eltern, möglichst frühzeitig ihre Elternschaft kompetent und zufriedenstellend auszuüben. Mit unterschiedlichen Projekten, wie dem Ausbau videogestützter Beratung in der Psychologischen Beratungsstelle (WP 09-14 SV 51/103) und dem Ausbau der Zusammenarbeit der Psychologischen Beratungsstelle mit den Familienzentren (WP 09-14 SV 51/140) wurden Bedingungen geschaffen, die einerseits frühe und niedrigschwellige Beratung weiter erleichtern und andererseits mit der videogestützten Beratung das methodische Spektrum zur Stärkung der Eltern in ihrem elterlichen Tun erweitern.

Mit dem im Folgenden vorgestellten Erfahrungsbericht „Hilfen für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern in der Psychologischen Beratungsstelle Hilden/Haan“ werden die besonderen Rahmenbedingungen und Maßnahmen zum Aufbau eines gut angenommenen Beratungsangebots für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern, der sog. „frühe Beratung“, dargestellt. Daneben soll dem Jugendhilfeausschuss tiefergehend Einblick gegeben werden in die besonderen Ausgangslagen und beraterischen Vorgehensweisen in dieser Arbeit.

 


Hilfen für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern in der Psychologischen Beratungsstelle Hilden/Haan – Ein erster Erfahrungsbericht

 

Wo liegt der Bedarf? Ein Fallbeispiel

Joshua (Name geändert) schreit. Seine Mutter hat ihn bereits gestillt, gewickelt, mit ihm gespielt, die Spieluhr aufgezogen, ihm mehrere, kleine Lieder vorgesungen und ihn durch die Wohnung getragen. Aber er schreit und schreit und findet keine Ruhe.

Joshua ist 12 Wochen alt. Seit 6 Wochen geht das jetzt so, oft stundenlang. Tagsüber schläft er kaum, weint viel, wird beim kleinsten Geräusch wach oder erschrickt heftig.

Seine Eltern, die ihn sehr lieben und sich monatelang auf ihn gefreut haben, sind völlig erschöpft, am Ende ihrer Kraft.  Sie schlafen kaum noch, trauen sich mit ihrem Sohn nicht mehr aus dem Haus. Immer seltener gibt es schöne Momente zwischen den Eltern und Joshua. Wenn Joshua mal nicht weint, sind die Eltern viel zu müde, um mit ihm zu spielen oder zu reden.

                                        

Joshua ist das, was man im Volksmund „ein Schreikind“ nennt.  Jedes 5.-6. neugeborene Baby schreit häufiger und intensiver, als Babys das im Durchschnitt tun. Es bekommt zu wenig Schlaf und kann sich nicht genug beruhigen, um beim Stillen oder Füttern satt zu werden. Die Ursachen für diese frühkindlichen Schreiattacken, auch Regulationsstörungen genannt, sind vielfältig. Deutlich seltener als früher vermutet stehen jedoch die sogenannten 3-Monatskolliken dahinter.

 

Vielmehr geht man heutzutage davon aus, dass einige Babys v.a. in den ersten Monaten ihres Lebens große Probleme haben, sich an das Leben außerhalb des schützenden Körpers der Mutter zu gewöhnen. Ihnen gelingt es nicht – oder nur schlecht – sich in den für sie wichtigen Verhaltensbereichen  (Selbstberuhigung, Schlaf-Wach-Rhythmus, Nahrungsaufnahme) ausreichend zu regulieren. Ein Teufelskreis aus Überreizung, Übermüdung und Hunger beginnt. Bald wissen auch geduldige und liebevolle Eltern nicht mehr, wie sie ihrem Kind helfen können. Sie fühlen sich hilflos, zweifeln an ihrer Rolle als Eltern und verlieren immer mehr die Hoffnung, dass sie mit ihrem Baby einen Ausweg aus diesem kräftezehrenden Teufelskreis finden können.

Die Kommunikation zwischen Eltern und Baby nimmt auch in „ruhigen Phasen“ ab, verliert an Leichtigkeit, Wärme und Passgenauigkeit. Das Baby braucht jedoch diese Kommunikation mit seinen Eltern, um sich in allen Persönlichkeitsbereichen entwickeln zu können.

Bleibt dieses Ungleichgewicht bestehen, drohen  langfristig für das Kind Beeinträchtigungen in nahezu allen Entwicklungsbereichen  (kognitiv, emotional, sprachlich).

 

In dieser Situation benötigen Eltern und Baby Hilfe von außen. Entsprechende Spezialberatungsstellen (sog. Schreiambulanzen) in Köln oder Düsseldorf  sind für junge Familien aus Haan und Hilden oftmals aufgrund der räumlichen Entfernung schwer zu erreichen.

 

Welche Hilfen bietet die psychologische Beratungsstelle? Spezialisierung des Angebotes für junge Familien

Um dem Bedarf gerecht zu werden, hat die psychologische Beratungsstelle ihr Angebot in diesem Bereich gezielt ausgebaut. Zwei Kolleginnen des Teams haben sich im Rahmen eines zweijährigen Curriculums mit zertifiziertem Abschluss für die Arbeit mit Eltern und Säuglingen zusätzlich qualifiziert. Die entsprechenden räumlichen und materiellen Voraussetzungen wurden geschaffen (Anschaffung von Wickelkommode und Baby – Hochstühlen, Krabbeldecken, Babyspielsachen etc.).

Der Ablauf des Anmelde – und Beratungsprozesses ist speziell auf die Bedürfnisse von Eltern mit Säuglingen abgestimmt (extrem kurze Wartezeiten, zeitlich dichtere Terminabfolge, bei Bedarf vermehrt Hausbesuche).

Der Ausbau der Kooperation mit den für junge Familien zuständigen Institutionen (siehe unten) wird forciert.

 

Das Ziel der Entwicklungsberatung ist eine möglichst rasche Behebung der Symptome und damit eine schnell wirksame Entlastung von Eltern und Baby.

 

Dennoch ist eine differenzierte Diagnostik der Problematik zu Beginn der Behandlung wichtig. Dazu wird der Schweregrad der Problematik (»Schreitagebuch«, »Schlafprotokoll«) eingeschätzt, die allgemeine und die störungsspezifische Anamnese erhoben und eine Einschätzung der Eltern – Kind – Interaktion vorgenommen. Darüber hinaus ist in Kooperation mit den Kinderärzten eine Ausschlussdiagnostik (Abgrenzung zur allgemeinen Entwicklungsretardierung, somatischen Störungen etc.) zwingend erforderlich.

 

Das therapeutische Konzept umfasst folgende Elemente:

  • allgemeine Entwicklungspsychologische Beratung (Information der Eltern über säuglingsspezifische Kompetenzen, Bedürfnisse und Entwicklungsschritte)
  • Aufbau entlastender Hilfen für Eltern und Baby (Vernetzung und Unterstützung, innerfamiliär und institutionell; Aufbau hilfreicher Kooperationen mit Familienhebammen, Frühförderstellen u.a.)
  • Beratung zum Thema Reizreduktion, Tagesablauf, Strukturierung, Rituale
  • beziehungstherapeutische Interventionen (Video – Interaktionsberatung); „Baby-Lesen“ (Derksen, 2010)

 

 

Der Blick für`s Detail - Videoberatung als besonderer Baustein der Entwicklungsberatung

In der Entwicklungsberatung für Eltern mit Säuglingen geht es vor allem darum, einen Ausweg aus dem Kreislauf der negativen Gegenseitigkeit zu finden und (wieder) in einen Kreislauf vermehrter positiver Interaktionen einzusteigen.

 

Babys benötigen zur Unterstützung ihrer selbstregulatorischen Aufgaben dringend Hilfe durch die Interaktion mit den Eltern. Die Eltern erfüllen gewissermaßen ständig eine co-regulatorische Funktion, indem sie ihrem Baby helfen, sich selbst zu beruhigen, in den Schlaf zu finden oder aber auch die Wachphasen für Exploration, Kontakt  oder Nahrungsaufnahme zu nutzen.

 

Die Technik der Videoberatung ermöglicht eine konkrete und detailgenaue Analyse der kindlichen Verhaltenszeichen und der Reaktion auf elterliche Unterstützungsversuche. Die Eltern können mit Hilfe der Beraterin in Ruhe die Signale ihres Kindes anschauen, diese deuten und vor allem gelungene Interaktionen entdecken, die sie in der Belastung des Alltags sonst übersehen.

Entwicklungsberatung bei frühkindlichen Regulationsstörungen ist immer Eltern-Kind-Therapie!

 

 


Ergebnisse des Beratungsprozesses –  Das Fallbeispiel (Fortsetzung)

Joshua ist ein Baby, das sehr sensibel und noch leicht irritierbar ist.  Er zeigt allerdings nur sehr feine Anzeichen, wenn er belastet ist. Folglich sind sie leicht zu übersehen oder falsch zu interpretieren. Er ist „nicht leicht zu lesen“ und seine Überanstrengung ist erst offensichtlich, wenn er scheinbar ganz plötzlich exzessiv und unstillbar schreit.

Die Videoaufnahmen aber zeigen sehr deutlich, wie schnell Joshua mit den Reizen und Spielangeboten überfordert ist, welche die Mutter ihm mittlerweile in einer Vielzahl und schnell wechselnd anbietet, um zu verhindern, dass er wieder schreit. Seine Atmung wird schneller und gepresster, er rudert mit den Armen, reibt sich die Augen, wendet den Blick ab. Aber: er beruhigt und entspannt sich, wenn die Mutter ruhig und leise mit ihm spricht, wenn sie ihm sanft die Hand auf den Bauch legt, wenn sie Blickkontakt haben, wenn sie lächelt oder ihm ganz leise etwas vorsingt.

 

Mit Hilfe der Videoarbeit gewinnt die Mutter wieder Sicherheit im Umgang mit Joshua, sie weiß, was ihm gut tut und was zu viel ist. Sie reduziert Spielangebote und akustische Reize, spricht leise und ruhig mit ihm, achtet auf seine Signale und Kontaktzeichen. Bereits nach wenigen Beratungsstunden berichtet sie erleichtert, dass es ihr und Joshua viel besser miteinander geht und er viel weniger schreit.

Das Gefühl, im Umgang mit Joshua  wieder hilfreich sein zu können, stärkt ihr Selbstvertrauen als Mutter und ihre Sicherheit im Umgang mit dem Baby.

Joshua beginnt, sich plappernd mit sich selbst und seiner Mutter zu unterhalten, er erforscht die vielen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, die er neben dem Schreien noch hat. Dieser wichtige Grundstein für Kommunikation und Sprache ist wieder freigelegt.

 

 

Zusammenarbeit mit anderen Fachstellen – Vernetzung zwischen Jugendhilfe und Gesundheitssystem

In der Arbeit mit Eltern und Säuglingen bekommt besonders die Schnittstelle zwischen Familienberatung und medizinischem System eine große Bedeutung.

Mit dem Aufbau des neuen Beratungsangebotes hat die Beratungsstelle daher ihren Kontakt zu den Fachkräften aus Geburtshilfe und Kindermedizin intensiviert.

Insbesondere mit den beiden für Hilden zuständigen Familienhebammen besteht mittlerweile ein enger und vertrauensvoller Kontakt. Es gibt eine wechselseitige fachliche Unterstützung, aber auch eine gegenseitige Überweisung von Familien.

 

Seit Sommer 2011 ist die Psychologische Beratungsstelle vertreten im Projekt »Kinder Zukunft NRW«, in dem sich Kinderärzte/innen, Gynäkologen/innen, Hebammen, Familienhebammen, Frühförderstellen, Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen und Abteilungen des Jugendamtes (ASD, Beratungsstelle) eng vernetzen, um Eltern mit Säuglingen zu versorgen und Risikofamilien frühzeitig zu erkennen.

 

Darüber hinaus gibt es regelmäßige Kooperationstreffen mit den beiden in Hilden tätigen  Familienhebammen  und der im ASD für die Koordination der frühen Hilfen zuständigen Kollegin.

 

Schon seit längerem hat die Psychologische Beratungsstelle ihren Kontakt zu den Familienzentren in Hilden und Haan gefestigt. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind in den Familienzentren im Rahmen offener Sprechstunden vor Ort. Das eröffnet zusätzlich  einen niedrigschwelligen Zugang zu den Familien mit Kleinstkindern.

 

 


Wie die Eltern über das neue Angebot informiert werden - Öffentlichkeitsarbeit

Um das Angebot für die Eltern transparent zu machen, war v.a. in der Anfangsphase intensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wichtig:

  • es wurde spezielles Informationsmaterial (Flyer, Plakate) entwickelt, das in Kinderarztpraxen, Familienbildungsstätten, Familienzentren etc. weiter verteilt/ausgelegt werden kann
  • Alle Kinderärzte in Hilden und Haan, des Weiteren die Familienbildungsstätten der Kinderschutzbund, der ASD in Hilden und der BSD in Haan, die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, die Familienzentren  sind telefonisch oder persönlich über das neue Angebot informiert worden und haben Flyer und/oder ein Plakat erhalten
  • In 2 regionalen Tageszeitungen ist ein Artikel über das Angebot erschienen
  • Die Beratungsstelle stellt das Angebot regelmäßig jungen Eltern im Rahmen der Schlafsackstunde des Kinderschutzbundes vor und gibt Eltern dort die Möglichkeit zu einer ersten Kontaktaufnahme
  • In Kooperation mit dem Stellwerk Hilden fand im Rahmen der Extraschicht ein Elterninformationsabend zum Thema „Hilfen für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern“ statt

 

Erste praktische Erfahrungen nach einem Jahr – Zahlen und Fazit

Nach etwas mehr als einem Jahr Aufbau- und Beratungsarbeit ist erreicht, dass die von der Psychologischen Beratungsstelle bislang angebotenen Anmeldetermine für diesen Bereich (derzeit einer pro Woche) abgefragt werden. Die Neuanmeldungen nehmen stetig zu.

 

 

Darüber hinaus kann festgehalten werden:

  • die Vernetzung ist gelungen, das neue Angebot der Beratungsstelle ist zunehmend in den Bereichen Medizin, Jugendhilfe und Familienbildung bekannt und wird auch empfohlen
  • mittlerweile kommen Eltern auch durch „Mund-zu-Mund-Propaganda“
  • die Eltern sind dankbar über das neue Angebot, sie arbeiten intensiv mit, die Zahl der Abbrüche ist relativ gering,
  • die Hildener (und Haaner) Eltern nehmen das neue Angebot der Beratungsstelle im Bereich frühe Hilfen gut an; sie sind dankbar für die gute Erreichbarkeit und die kurzen Wege, ebenso für extrem kurze Wartezeiten und die zumeist schnelle, positive Entwicklung, die mit Hilfe der Beratung erreicht wird
  • die Beratung von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern ist in hohem Maße präventiv; sie ermöglicht Eltern und Babys ein (wieder) entspanntes Miteinander und fördert somit die Entwicklung des Babys in allen Verhaltensbereichen (Kognition, Sprache, Emotion)
  • die Strukturen für Vernetzungs- und Öffentlichkeitsarbeit sind aufgebaut und werden regelmäßig genutzt und gepflegt
  • die Psychologische Beratungsstelle fügt sich mit dem Beratungsangebot für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern in das immer stabilere Netz früher Hilfen, das die Stadt Hilden für ihre jungen Familien bereithält

 

Die gesamte Entwicklung spricht deutlich dafür, dass für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern in Hilden ein neues, hilfreiches und gut akzeptiertes Angebot durch die Psychologische Beratungsstelle geschaffen wurde. Dieses Angebot stärkt junge Eltern in ihren elterlichen Kompetenzen und ist damit ein erster, grundlegender Baustein zum Schutz von Kindern vor Vernachlässigung, Verwahrlosung, Gewalt und Missbrauch, wie es im seit 2012 geltenden Bundeskinderschutzgesetz gefordert wird. Der im Gesetz geforderte Ausbau früher Hilfen ist so im Aufbau. Weiterer Ausbau des Netzes früher Hilfen wird zu mehr Wachsamkeit für Belastungen von Kleinkindern und ihren Familien führen. Mehr Wachsamkeit erhöht die Chancen dafür, dass junge Familien in ihrem Lebensumfeld von den Möglichkeiten früher Hilfen erfahren – und diese auch nutzen wollen. Eine für die Chancen der Kinder unbedingt zu wünschende Entwicklung.

 

Soll die Beratungsstelle mit diesen Entwicklungen Schritt halten, müssen für dieses neue, zusätzliche Tätigkeitsfeld weitere personelle Ressourcen geschaffen werden. Nach aktuellem Stand sind die bestehenden personellen Ressourcen an ihre Grenzen ausgeschöpft. Das zu erwartende, weitere Wachstum der Nachfrage muss jetzt sorgfältig beobachtet werden und dann auch zeitnah bedient werden. Auch wenn übergangsweise mit Honorarkräften Engpässe teilweise kompensiert werden können, muss eine dauerhafte Verlagerung von Ressourcen vermieden werden, um schwerwiegende Einschnitte in anderen Beratungsbereichen (Schulpsychologie, Beratung für Familien in Trennungs- / Scheidungssituationen, Jugendlichenberatung etc.) zu vermeiden.

Die weitere Entwicklung bis Mitte 2014 sollte den so entstehenden personellen Bedarf deutlich machen, der zur dauerhaften Aufrechterhaltung eines fest in der Palette früher Hilfen in Hilden verankerten Angebots notwendig ist.

 

 

gez.

Horst Thiele


 

Finanzielle Auswirkungen   Nein


Personelle Auswirkungen  Nein