Beschlussvorschlag:
Der
Jugendhilfeausschuss nimmt den Bericht zum Ausbau der frühen Beratung in der
Psychologischen Beratungsstelle zur Kenntnis.
Erläuterungen
und Begründungen:
Die Psychologische Beratungsstelle der Stadt
Hilden unterstützt seit jeher Eltern, möglichst frühzeitig ihre Elternschaft
kompetent und zufriedenstellend auszuüben. Mit unterschiedlichen Projekten, wie
dem Ausbau videogestützter Beratung in der Psychologischen Beratungsstelle (WP
09-14 SV 51/103) und dem Ausbau der Zusammenarbeit der Psychologischen
Beratungsstelle mit den Familienzentren (WP 09-14 SV 51/140) wurden Bedingungen geschaffen, die
einerseits frühe und niedrigschwellige Beratung weiter erleichtern und
andererseits mit der videogestützten Beratung das methodische Spektrum zur
Stärkung der Eltern in ihrem elterlichen Tun erweitern.
Mit dem im Folgenden vorgestellten Erfahrungsbericht „Hilfen für Eltern
mit Säuglingen und Kleinkindern in der Psychologischen Beratungsstelle
Hilden/Haan“ werden die besonderen Rahmenbedingungen und Maßnahmen zum Aufbau
eines gut angenommenen Beratungsangebots für Eltern mit Säuglingen und
Kleinkindern, der sog. „frühe Beratung“, dargestellt. Daneben soll dem
Jugendhilfeausschuss tiefergehend Einblick gegeben werden in die besonderen
Ausgangslagen und beraterischen Vorgehensweisen in dieser Arbeit.
Hilfen für Eltern mit
Säuglingen und Kleinkindern in der Psychologischen Beratungsstelle Hilden/Haan
– Ein erster Erfahrungsbericht
Wo liegt der Bedarf? Ein
Fallbeispiel
Joshua (Name geändert)
schreit. Seine Mutter hat ihn bereits gestillt, gewickelt, mit ihm gespielt,
die Spieluhr aufgezogen, ihm mehrere, kleine Lieder vorgesungen und ihn durch
die Wohnung getragen. Aber er schreit und schreit und findet keine Ruhe.
Joshua ist 12 Wochen
alt. Seit 6 Wochen geht das jetzt so, oft stundenlang. Tagsüber schläft er
kaum, weint viel, wird beim kleinsten Geräusch wach oder erschrickt heftig.
Seine Eltern, die ihn
sehr lieben und sich monatelang auf ihn gefreut haben, sind völlig erschöpft,
am Ende ihrer Kraft. Sie schlafen kaum
noch, trauen sich mit ihrem Sohn nicht mehr aus dem Haus. Immer seltener gibt
es schöne Momente zwischen den Eltern und Joshua. Wenn Joshua mal nicht weint,
sind die Eltern viel zu müde, um mit ihm zu spielen oder zu reden.
                                       Â
Joshua ist das, was man im Volksmund „ein Schreikind“ nennt. Jedes 5.-6. neugeborene Baby schreit häufiger
und intensiver, als Babys das im Durchschnitt tun. Es bekommt zu wenig Schlaf
und kann sich nicht genug beruhigen, um beim Stillen oder Füttern satt zu
werden. Die Ursachen für diese frühkindlichen Schreiattacken, auch Regulationsstörungen
genannt, sind vielfältig. Deutlich seltener als früher vermutet stehen jedoch
die sogenannten 3-Monatskolliken dahinter.
Vielmehr geht man heutzutage davon aus, dass einige Babys v.a. in den
ersten Monaten ihres Lebens große Probleme haben, sich an das Leben außerhalb
des schützenden Körpers der Mutter zu gewöhnen. Ihnen gelingt es nicht – oder
nur schlecht – sich in den für sie wichtigen Verhaltensbereichen (Selbstberuhigung, Schlaf-Wach-Rhythmus,
Nahrungsaufnahme) ausreichend zu regulieren. Ein Teufelskreis aus Ãœberreizung,
Übermüdung und Hunger beginnt. Bald wissen auch geduldige und liebevolle Eltern
nicht mehr, wie sie ihrem Kind helfen können. Sie fühlen sich hilflos, zweifeln
an ihrer Rolle als Eltern und verlieren immer mehr die Hoffnung, dass sie mit
ihrem Baby einen Ausweg aus diesem kräftezehrenden Teufelskreis finden können.
Die Kommunikation zwischen Eltern und Baby nimmt auch in „ruhigen
Phasen“ ab, verliert an Leichtigkeit, Wärme und Passgenauigkeit. Das Baby
braucht jedoch diese Kommunikation mit seinen Eltern, um sich in allen Persönlichkeitsbereichen
entwickeln zu können.
Bleibt dieses Ungleichgewicht bestehen, drohen langfristig für das Kind Beeinträchtigungen
in nahezu allen EntwicklungsbereichenÂ
(kognitiv, emotional, sprachlich).
In dieser Situation benötigen Eltern und Baby Hilfe von außen.
Entsprechende Spezialberatungsstellen (sog. Schreiambulanzen) in Köln oder
Düsseldorf sind für junge Familien aus
Haan und Hilden oftmals aufgrund der räumlichen Entfernung schwer zu erreichen.
Welche Hilfen bietet die
psychologische Beratungsstelle? Spezialisierung des Angebotes für junge Familien
Um dem Bedarf gerecht zu werden, hat die psychologische Beratungsstelle
ihr Angebot in diesem Bereich gezielt ausgebaut. Zwei Kolleginnen des Teams
haben sich im Rahmen eines zweijährigen Curriculums mit zertifiziertem
Abschluss für die Arbeit mit Eltern und Säuglingen zusätzlich qualifiziert. Die
entsprechenden räumlichen und materiellen Voraussetzungen wurden geschaffen
(Anschaffung von Wickelkommode und Baby – Hochstühlen, Krabbeldecken, Babyspielsachen
etc.).
Der Ablauf des Anmelde – und Beratungsprozesses ist speziell auf die
Bedürfnisse von Eltern mit Säuglingen abgestimmt (extrem kurze Wartezeiten,
zeitlich dichtere Terminabfolge, bei Bedarf vermehrt Hausbesuche).
Der Ausbau der Kooperation mit den für junge Familien zuständigen
Institutionen (siehe unten) wird forciert.
Das Ziel der Entwicklungsberatung ist eine möglichst rasche Behebung der
Symptome und damit eine schnell wirksame Entlastung von Eltern und Baby.
Dennoch ist eine differenzierte Diagnostik der
Problematik zu Beginn der Behandlung wichtig. Dazu wird der Schweregrad der
Problematik (»Schreitagebuch«, »Schlafprotokoll«) eingeschätzt, die allgemeine
und die störungsspezifische Anamnese erhoben und eine Einschätzung der Eltern –
Kind – Interaktion vorgenommen. Darüber hinaus ist in Kooperation mit den
Kinderärzten eine Ausschlussdiagnostik (Abgrenzung zur allgemeinen Entwicklungsretardierung,
somatischen Störungen etc.) zwingend erforderlich.
Das therapeutische Konzept umfasst folgende Elemente:
- allgemeine Entwicklungspsychologische
Beratung (Information der Eltern über säuglingsspezifische Kompetenzen,
Bedürfnisse und Entwicklungsschritte)
- Aufbau entlastender Hilfen für Eltern
und Baby (Vernetzung und Unterstützung, innerfamiliär und institutionell;
Aufbau hilfreicher Kooperationen mit Familienhebammen, Frühförderstellen
u.a.)
- Beratung zum Thema Reizreduktion,
Tagesablauf, Strukturierung, Rituale
- beziehungstherapeutische Interventionen
(Video – Interaktionsberatung); „Baby-Lesen“ (Derksen, 2010)
Der Blick für`s Detail -
Videoberatung als besonderer Baustein der Entwicklungsberatung
In der Entwicklungsberatung für Eltern mit Säuglingen geht es vor allem
darum, einen Ausweg aus dem Kreislauf der negativen Gegenseitigkeit zu finden
und (wieder) in einen Kreislauf vermehrter positiver Interaktionen einzusteigen.
Babys benötigen zur Unterstützung ihrer selbstregulatorischen Aufgaben
dringend Hilfe durch die Interaktion mit den Eltern. Die Eltern erfüllen
gewissermaßen ständig eine co-regulatorische Funktion, indem sie ihrem Baby
helfen, sich selbst zu beruhigen, in den Schlaf zu finden oder aber auch die
Wachphasen für Exploration, Kontakt oder
Nahrungsaufnahme zu nutzen.
Die Technik der Videoberatung ermöglicht eine konkrete und detailgenaue
Analyse der kindlichen Verhaltenszeichen und der Reaktion auf elterliche
Unterstützungsversuche. Die Eltern können mit Hilfe der Beraterin in Ruhe die
Signale ihres Kindes anschauen, diese deuten und vor allem gelungene
Interaktionen entdecken, die sie in der Belastung des Alltags sonst übersehen.
Entwicklungsberatung bei frühkindlichen Regulationsstörungen ist immer
Eltern-Kind-Therapie!
Ergebnisse des
Beratungsprozesses – Das Fallbeispiel
(Fortsetzung)
Joshua ist ein Baby, das
sehr sensibel und noch leicht irritierbar ist.Â
Er zeigt allerdings nur sehr feine Anzeichen, wenn er belastet ist.
Folglich sind sie leicht zu übersehen oder falsch zu interpretieren. Er ist
„nicht leicht zu lesen“ und seine Überanstrengung ist erst offensichtlich, wenn
er scheinbar ganz plötzlich exzessiv und unstillbar schreit.
Die Videoaufnahmen aber
zeigen sehr deutlich, wie schnell Joshua mit den Reizen und Spielangeboten
überfordert ist, welche die Mutter ihm mittlerweile in einer Vielzahl und
schnell wechselnd anbietet, um zu verhindern, dass er wieder schreit. Seine
Atmung wird schneller und gepresster, er rudert mit den Armen, reibt sich die
Augen, wendet den Blick ab. Aber: er beruhigt und entspannt sich, wenn die
Mutter ruhig und leise mit ihm spricht, wenn sie ihm sanft die Hand auf den
Bauch legt, wenn sie Blickkontakt haben, wenn sie lächelt oder ihm ganz leise
etwas vorsingt.
Mit Hilfe der
Videoarbeit gewinnt die Mutter wieder Sicherheit im Umgang mit Joshua, sie
weiß, was ihm gut tut und was zu viel ist. Sie reduziert Spielangebote und
akustische Reize, spricht leise und ruhig mit ihm, achtet auf seine Signale und
Kontaktzeichen. Bereits nach wenigen Beratungsstunden berichtet sie
erleichtert, dass es ihr und Joshua viel besser miteinander geht und er viel
weniger schreit.
Das Gefühl, im Umgang
mit Joshua wieder hilfreich sein zu
können, stärkt ihr Selbstvertrauen als Mutter und ihre Sicherheit im Umgang mit
dem Baby.
Joshua beginnt, sich
plappernd mit sich selbst und seiner Mutter zu unterhalten, er erforscht die
vielen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, die er neben dem Schreien noch
hat. Dieser wichtige Grundstein für Kommunikation und Sprache ist wieder
freigelegt.
Zusammenarbeit mit
anderen Fachstellen – Vernetzung zwischen Jugendhilfe und Gesundheitssystem
In der Arbeit mit Eltern und Säuglingen bekommt besonders die
Schnittstelle zwischen Familienberatung und medizinischem System eine große
Bedeutung.
Mit dem Aufbau des neuen Beratungsangebotes hat die Beratungsstelle
daher ihren Kontakt zu den Fachkräften aus Geburtshilfe und Kindermedizin
intensiviert.
Insbesondere mit den beiden für Hilden zuständigen Familienhebammen
besteht mittlerweile ein enger und vertrauensvoller Kontakt. Es gibt eine
wechselseitige fachliche Unterstützung, aber auch eine gegenseitige Überweisung
von Familien.
Seit Sommer 2011 ist die Psychologische Beratungsstelle vertreten im
Projekt »Kinder Zukunft NRW«, in dem sich Kinderärzte/innen, Gynäkologen/innen,
Hebammen, Familienhebammen, Frühförderstellen, Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen
und Abteilungen des Jugendamtes (ASD, Beratungsstelle) eng vernetzen, um Eltern
mit Säuglingen zu versorgen und Risikofamilien frühzeitig zu erkennen.
Darüber hinaus gibt es regelmäßige Kooperationstreffen mit den beiden in
Hilden tätigen Familienhebammen und der im ASD für die Koordination der
frühen Hilfen zuständigen Kollegin.
Schon seit längerem hat die Psychologische Beratungsstelle ihren Kontakt
zu den Familienzentren in Hilden und Haan gefestigt. Die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen sind in den Familienzentren im Rahmen offener Sprechstunden
vor Ort. Das eröffnet zusätzlich einen
niedrigschwelligen Zugang zu den Familien mit Kleinstkindern.
Wie die Eltern über das
neue Angebot informiert werden - Öffentlichkeitsarbeit
Um das Angebot für die Eltern transparent zu machen, war v.a. in der
Anfangsphase intensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wichtig:
- es
wurde spezielles Informationsmaterial (Flyer, Plakate) entwickelt, das in
Kinderarztpraxen, Familienbildungsstätten, Familienzentren etc. weiter
verteilt/ausgelegt werden kann
- Alle
Kinderärzte in Hilden und Haan, des Weiteren die Familienbildungsstätten
der Kinderschutzbund, der ASD in Hilden und der BSD in Haan, die
Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, die Familienzentren sind telefonisch oder persönlich über
das neue Angebot informiert worden und haben Flyer und/oder ein Plakat
erhalten
- In
2 regionalen Tageszeitungen ist ein Artikel über das Angebot erschienen
- Die
Beratungsstelle stellt das Angebot regelmäßig jungen Eltern im Rahmen der
Schlafsackstunde des Kinderschutzbundes vor und gibt Eltern dort die
Möglichkeit zu einer ersten Kontaktaufnahme
- In
Kooperation mit dem Stellwerk Hilden fand im Rahmen der Extraschicht ein
Elterninformationsabend zum Thema „Hilfen für Eltern mit Säuglingen und
Kleinkindern“ statt
Erste praktische
Erfahrungen nach einem Jahr – Zahlen und Fazit
Nach etwas mehr als einem Jahr Aufbau- und Beratungsarbeit ist erreicht,
dass die von der Psychologischen Beratungsstelle bislang angebotenen
Anmeldetermine für diesen Bereich (derzeit einer pro Woche) abgefragt werden. Die
Neuanmeldungen nehmen stetig zu.
Darüber hinaus kann festgehalten werden:
- die
Vernetzung ist gelungen, das neue Angebot der Beratungsstelle ist
zunehmend in den Bereichen Medizin, Jugendhilfe und Familienbildung
bekannt und wird auch empfohlen
- mittlerweile
kommen Eltern auch durch „Mund-zu-Mund-Propaganda“
- die
Eltern sind dankbar über das neue Angebot, sie arbeiten intensiv mit, die
Zahl der Abbrüche ist relativ gering,
- die
Hildener (und Haaner) Eltern nehmen das neue Angebot der Beratungsstelle
im Bereich frühe Hilfen gut an; sie sind dankbar für die gute
Erreichbarkeit und die kurzen Wege, ebenso für extrem kurze Wartezeiten
und die zumeist schnelle, positive Entwicklung, die mit Hilfe der Beratung
erreicht wird
- die
Beratung von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern ist in hohem Maße
präventiv; sie ermöglicht Eltern und Babys ein (wieder) entspanntes
Miteinander und fördert somit die Entwicklung des Babys in allen Verhaltensbereichen
(Kognition, Sprache, Emotion)
- die
Strukturen für Vernetzungs- und Öffentlichkeitsarbeit sind aufgebaut und
werden regelmäßig genutzt und gepflegt
- die
Psychologische Beratungsstelle fügt sich mit dem Beratungsangebot für
Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern in das immer stabilere Netz früher
Hilfen, das die Stadt Hilden für ihre jungen Familien bereithält
Die gesamte Entwicklung spricht deutlich dafür,
dass für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern in Hilden ein neues, hilfreiches
und gut akzeptiertes Angebot durch die Psychologische Beratungsstelle
geschaffen wurde. Dieses Angebot stärkt junge Eltern in ihren elterlichen
Kompetenzen und ist damit ein erster, grundlegender Baustein zum Schutz von
Kindern vor Vernachlässigung, Verwahrlosung, Gewalt und Missbrauch, wie es im
seit 2012 geltenden Bundeskinderschutzgesetz gefordert wird. Der im Gesetz
geforderte Ausbau früher Hilfen ist so im Aufbau. Weiterer Ausbau des Netzes
früher Hilfen wird zu mehr Wachsamkeit für Belastungen von Kleinkindern und
ihren Familien führen. Mehr Wachsamkeit erhöht die Chancen dafür, dass junge
Familien in ihrem Lebensumfeld von den Möglichkeiten früher Hilfen erfahren –
und diese auch nutzen wollen. Eine für die Chancen der Kinder unbedingt zu
wünschende Entwicklung.
Soll die Beratungsstelle mit diesen Entwicklungen
Schritt halten, müssen für dieses neue, zusätzliche Tätigkeitsfeld weitere personelle
Ressourcen geschaffen werden. Nach aktuellem Stand sind die bestehenden
personellen Ressourcen an ihre Grenzen ausgeschöpft. Das zu erwartende, weitere
Wachstum der Nachfrage muss jetzt sorgfältig beobachtet werden und dann auch
zeitnah bedient werden. Auch wenn übergangsweise mit Honorarkräften Engpässe
teilweise kompensiert werden können, muss eine dauerhafte Verlagerung von
Ressourcen vermieden werden, um schwerwiegende Einschnitte in anderen
Beratungsbereichen (Schulpsychologie, Beratung für Familien in Trennungs- /
Scheidungssituationen, Jugendlichenberatung etc.) zu vermeiden.
Die weitere Entwicklung bis Mitte 2014 sollte den
so entstehenden personellen Bedarf deutlich machen, der zur dauerhaften Aufrechterhaltung
eines fest in der Palette früher Hilfen in Hilden verankerten Angebots
notwendig ist.
gez.
Horst Thiele
Finanzielle Auswirkungen  Nein
Personelle Auswirkungen Nein